Bonding-Psychotherapie: eine Einführung

© von Jeff Gordon

Bonding-Psychotherapie: eine Einführung © von Jeff Gordon

Die Bonding-Psychotherapie wurde in den 60er und 70er Jahren von Dr. Daniel Casriel entwickelt. Es ist ein emotionsorientierter Lernprozess, der auf dem Zugang zu tiefen Gefühlen, der Erarbeitung von positiven Einstellungen zu sich und anderen und der Entwicklung und Einübung von neuen Verhaltensweisen basiert. Eine der wichtigsten Entdeckungen von Dr. Casriel ist die Bedeutung eines biologisch verankerten Grundbedürnisses des Menschen nach emotionaler Offenheit zusammen mit körperlicher Nähe, das er mit dem Begriff “Bonding” benannte.
In den letzten Jahren wurde die Theorie der Bonding-Psychotherapie von Dr. Konrad Stauss, ehemaliger Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Bad Grönenbach, auf der Grundlage der Bindungstheorie, der von Grawe entwickelten Konsistenztheorie, sowie der modernen Hirnforschung und des Prozess- Erfahrungsansatzes von Greenberg und Elliot weiterentwickelt und differenziert. Das von Casriel genannte Grundbedürfnis nach emotionaler Offenheit und körperlicher Nähe ergänzte er durch weitere lebensnotwendige, neurobiologisch verankerte psychosoziale Grundbedürfnisse: Bindung, Autonomie, Selbstwert, Identität, Körperliches Wohlbehagen und Lebenssinn.

Im deutschsprachigen Raum ist der Therapieansatz auch als Casriel oder Bonding-Therapie bekannt.

Geschichtliche Entwicklung

Dr. med. Daniel Casriel, (gest. 1983), entwickelte seine Methode über einen Zeitraum von ca. 2O Jahren. Nach Abschluss seines Medizinstudiums an dem Cincinnati College of Medicine (1949) studierte er an dem Columbia Psychoanalytic Institute weiter unter der Leitung von Dr. Sandor Rado und Abram Kardiner. Die von ihnen entwickelte Adaptions-Psychodynamik war für Casriel von großer Bedeutung. Freuds propagierte Lehre der Pathologie der Triebe wurde ergänzt und teilweise ersetzt durch die Lehre der Pathologie der Konditionierung.

Casriel absolvierte seine Lehranalyse bei Kardiner, der selbst einer der letzten lebenden Analysanden Freuds war. Kardiner hatte in seiner Arbeit einen stark anthropologischen Ansatz. Dazu kamen Casriels eigene Erfahrungen und Beobachtungen während eines 18monatigen, kriegsbedingten Aufenthaltes in Okinawa. Dort lernte er die Ureinwohner kennen und war beeindruckt von deren unkompliziertem Umgang mit körperlicher Nähe sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen. Diese Erfahrungen prägten sein Menschenbild.

Im Jahre 1962 lernte Casriel eine Gemeinschaft zur Rehabilitation von Drogenabhängigen in Kalifornien kennen. Synanon hieß diese Selbsthilfeeinrichtung und wurde die Anregung für das später von Casriel entwickelte und weltweit eingesetzte Daytop Modell zur Therapie von Heroinsüchtigen. In der Arbeit mit seinen Patienten übernahm Casriel zwei Elemente der Synanon Erfahrung: 1. Die befreiende Wirkung des Ausdrucks tiefer Gefühle und 2. Die Betonung der Konfrontation selbstzerstörerischen Verhaltens. Nach und nach entwickelte er die spezifische Schrei-Übung sowie die gezielte Arbeit zur Veränderung von pathologischem Denken (Einstellungsarbeit).

In den letzten 10 Jahren seiner Arbeit betonte Casriel immer mehr die heilende Kraft, die in der Erfüllung der Primär-Bedürfnisse nach menschlicher Nähe (Bonding) liegt. Aus dieser Erkenntnis entwickelte er die Bonding Übung, die heute so im Mittelpunkt steht, dass seine Methode als Bonding-Therapie bezeichnet wird.

Dan Casriel und seine Arbeit wurden besonders durch Dr. med. Walter Lechler im deutschsprachigen Raum bekannt. Als Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb in der Zeit von 1971 bis 1988 hat Dr. Lechler Casriels Arbeit als einen wichtigen Bestandteil in die Lehr-Lern-Gemeinschaft der Klinik eingeführt und integriert.

Es gibt zur Zeit mehrere Kliniken für psychosomatische Medizin und Suchterkrankungen in der BRD, die Bonding-Psychotherapie neben anderen therapeutischen Verfahren anwenden, sowie einige Zentren und therapeutische Praxen, die mit dieser Methode arbeiten. Seit 1984 existiert die “International Society for Bonding Psychotherapy” mit regionalen Gesellschaften in den U.S.A., Deutschland, Belgien/Niederlande, Schweden, Italien und der Schweiz. Zertifizierungen zur Befähigung für die Arbeit mit der Bonding-Therapie werden durch die I.S.B.P. und die regionalen Gesellschaften durchgeführt.

Die “European Society for Bonding Psychotherapy” ist ein Mitglied der “European Association for Psychotherapy” (EAP).

Menschen und Weltbild

Das vielseitige seelische und psychosomatische Leiden des heutigen Menschen betrachtet Casriel als das Ergebnis einer kulturell bedingten Konditionierung. Der Kern dieser Konditionierung ist ein Zustand des Mangels im Bereich eines lebenswichtigen Basisbedürfnis des Menschen – Bonding. Genauer gesagt ist Bonding das biologisch verankerte Grundbedürfnis des Menschen nach emotionaler Offenheit zusammen mit körperlicher Nähe zu anderen Menschen. “Bei der Beobachtung von Urvölkern erfährt man eine natürliche Selbstverständlichkeit in Bezug auf diese Bedürfnisse”.(D.Casriel). Bedingt durch die Lage der Kleinfamilie und den Stress des modernen Lebensstils erleben Kinder der westlichen Welt häufig ein Defizit an einfacher körperlicher und seelischer Zuwendung. Sie lernen früh, dass der Preis für Liebe oder Zuwendung sehr hoch ist und lernen, sich entsprechend anzupassen. Diese kindlichen Entscheidungen bleiben als Überzeugungen, wie das Leben ist, im Erwachsenen gespeichert und prägen sein Verhalten. So entsteht ein Teufelskreis. Die Enttäuschung über ein unerfülltes Liebesbedürfnis, das als schmerzhaft oder ärgerlich erlebt wird verstärkt die Überzeugung, z.B. selbst nicht liebenswert zu sein. Man verhält sich demnach zurückhaltend oder feindselig und wirkt auf die menschliche Umwelt in einer Weise, dass man erneut enttäuscht wird. Aus solchen Kreisläufen entstehen eingefahrene Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster, die für den Betroffenen zu einem Gefängnis werden. Gelernte Verhaltensstrategien, die zu erneuter Enttäuschung führen, verstärken immer wieder die Grunderfahrung.
Um eine Veränderung zu ermöglichen ist es notwendig, in einer vertrauensvollen und unterstützenden Atmosphäre alte Vermeidungsstrategien zu erkennen und aufzugeben und neue, angemessene Verhaltensweisen einzuüben. Das Neuerlernen umfasst dabei alle drei Ebenen des Fühlens, Denkens und Handelns.

Der Mensch ist für Casriel von seiner Natur her gut und wertvoll. Ihm geht es um eine Wiederentdeckung des ursprünglichen, des biologischen Selbst. Die Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse eine Quelle der Freude für sich und andere sind, ermöglicht wieder eine emotionale Bindung zu anderen Menschen. Die drei Grundberechtigungen nach Casriel “Ich bin” (ich lebe), “Ich brauche” (meine Bedürfnisse sind gut), “Ich bin berechtigt” (für mich zu sorgen, Fehler zu machen, glücklich zu sein, usw.) werden erfahrbar. “Bonding ist die mehr und mehr angstfreie Beziehung zu dem Geschenk LEBEN, zu allem, was für uns auf dieser Welt Partner ist in unserer dialogischen Beziehung mit dem Leben. Bonding ist Ausdruck einer Lebenshaltung, Lebenseinstellung, Lebensweise, die Identität zu deren Bild wir geschaffen sind und auf die zu wir uns hinentwickeln müssen, wenn wir leben und nicht dahinsiechen und sterben wollen.” (Dr. Walther Lechler)

Anwendungsbereich

Bonding-Psychotherapie eignet sich im Allgemeinen für alle Menschen, die besseren Zugang zu ihrer Gefühlswelt gewinnen und ihre emotionale Bindungsfähigkeit vertiefen möchten. Für Menschen mit besonders rigiden und/oder zerbrechlichen Ich-Strukturen sollte die Bonding-Psychotherapie nur im klinischen Rahmen und in entsprechend abgewandelter Form eingesetzt werden.
Ablauf der Arbeit

Bonding-Psychotherapie ist ein gruppentherapeutisches Verfahren, das in ganz unterschiedlichem Kontext angewendet werden kann: als fortlaufende, ambulante Gruppe, als prophylaktische und wachstumsorientierte Selbsterfahrung und als hauptsächliche oder ergänzende therapeutische Massnahme im klinischen Rahmen. Eine typische Bonding-Sitzung dauert etwa 3 Stunden, die Teilnahme an einer wöchentlichen fortlaufenden Gruppe etwa 1 bis 3 Jahre.

Vorgehensweise

Traditionell wird eine Bonding-Sitzung mit einem Informations-Gespräch des Leiters eröffnet. Es wird Bezug genommen auf verschiedene, für die Arbeit relevante Themen wie z.B. das Zusammenwirken von Gefühlen, Einstellungen und Verhalten, die Bedeutung von emotionaler und körperlicher Nähe, Bedeutung und Ausdruck der Emotionen, Grundüberzeugungen, die sich in Beziehungs-Gestaltung widerspiegeln, Sinn und Vorgehensweise der Bonding-Übung, usw.
Danach beginnt die Bonding-Arbeit in zwei parallel stattfindenden Gruppen, der Bonding- und der Einstellungsgruppe. Beide Gruppen werden von erfahrenen Therapeuten begleitet.
Für die Bonding-Übung legen sich die Partner auf die dafür vorhandenen Matten. Während die Person, die arbeitet, sich an ihrem Partner festhält, erlaubt sie sich, diese Nähe zu spüren. Nach kurzer Zeit tauchen eine Vielfalt alter Gefühle, Grundüberzeugungen, Erinnerungen und Bilder auf, die nun ausgedrückt werden können. In dem Maße, in dem mehr Vertrauen in die eigenen Gefühle und zum Partner gewonnen wird, verändert sich die Nähe von etwas Fremdem und Beängstigendem zu einem angenehmen und bestätigenden Kontakt. Im Laufe mehrerer Sitzungen wirkt diese Übung wie ein “psychologisches Mikroskop” (Casriel), wodurch die TeilnehmerInnen immer deutlicher ihre Ängste und negativen Einstellungen in Bezug auf emotionale Nähe erleben können. Einige der häufigsten negativen Überzeugungen sind:
“Wenn ich jemandem nah bin, … muss ich mich aufgeben/ bin ich ausgeliefert/ werde ich kontrolliert/ bin ich zuviel/ muss ich einen hohen (emotionalen) Preis bezahlen, usw.”. Diese Einsichten werden nicht nur intellektuell, sondern auch gefühlsmäßig “ mit dem Bauch” verstanden, als wichtige Voraussetzung, alte Verletzungen integrieren und neue Einstellungen erarbeiten zu können.

In der parallel laufenden Einstellungsgruppe findet eine weitere differenzierte Aufarbeitung und Integration des Erlebten statt. Neue Einstellungen können in der Runde verstärkt werden, entweder als Selbstbehauptung oder sanft und behutsam, wie eine neue Pflanze, die gehegt werden muss. Durch die Nähe-Übung aktivierte Themen können angesprochen werden, z.B. Angst vor Nähe, mangelndes Vertrauen, Probleme mit dem Ehepartner, den Eltern, den Kindern, dem Vorgesetzten usw. Irrationale Gefühlsreaktionen, die hinter inadäquatem Verhalten stehen werden bewusst und es können Bezüge hergestellt werden zu ähnlichen Gefühlsmustern und Verhaltensweisen in der Ursprungsfamilie, die nun emotional zugänglich sind.

Ambulante Gruppen

Die wöchentlichen, fortlaufenden Gruppen beginnen mit einer sogenannten offenen Periode. In der Einführungsrunde berichten die Teilnehmer, wie es ihnen geht, und welche Themen für sie in der heutigen Sitzung wichtig sind. Beziehungs-Konflikte können angesprochen und ausgetragen, Ärger und Wertschätzungen geäußert werden – die sogenannte Alltagsarbeit in Beziehungen. Die Teilnehmer erhalten ehrliche Reaktionen und Rückmeldungen, so dass bestimmte Verhaltensweisen und nicht verbale Signale bewusst werden können.

Fallbeispiel

Peter, ein 34 jähriger Teilnehmer einer wöchentlichen Bonding-Gruppe, nickt zustimmend, während andere Gruppenmitglieder erzählen, daß sie ihn als zurückhaltend, profillos, in der Gruppenlandschaft verschwindend, erleben. Peter kennt seine Angst vor Gruppen jeglicher Art, die Angst etwas Falsches zu tun oder anderen unangenehm aufzufallen. Er kann sich deswegen im Beruf schlecht behaupten und erlebt in sozialen Situationen häufig das Gefühl, zu kurz zu kommen. Nach Besprechung der Rückmeldungen ist Peter bereit, eine emotionale Übung mit einem neuen Einstellungs-Satz auszuprobieren. Zuerst leise und ängstlich, dann immer lauter und mit klarerem Blick, wiederholt Peter den Satz: “Ich bin auch da.”, während er dabei im Kreis nacheinander jedem Gruppenmitglied in die Augen schaut. Was am Anfang ein Satz ohne Gefühl war, wird zu einem lauten Ausdruck voller Kraft und Selbstbehauptung. Peter wird sich des Ärgers bewusst, den er sein ganzes Leben lang gelernt hatte zu unterdrücken. Mit wohlwollender Unterstützung und Bestätigung der anderen Teilnehmer konnte er einen weiteren Schritt tun, seinen Wunsch nach sozialer Akzeptanz nicht mehr mit Überanpassung zu bezahlen.

Zusammenfassung

Die Bonding-Psychotherapie ist ein emotions-orientierter Lernprozess, dessen Wirksamkeit auf einem Zugang zu tiefen Gefühlen, der Bewusstmachung und Veränderung alter, nicht mehr angemessener Einstellungen zu sich und anderen und dem Erlernen neuer Verhaltensweisen basiert. Die vertrauensvolle und unterstützende Atmosphäre in der Gruppe ermöglicht es, miteinander in einen offenen und ehrlichen Austausch zu treten. Alte Vermeidungsstrategien, die heute wie Stolpersteine wirken, können erkannt und aufgegeben werden um neue, angemessene Verhaltensweisen auszuprobieren, als Voraussetzung für eine lebendige und lebensfreudige Beziehungs- und Lebensgestaltung.

Literatur

Casriel, D.“New Identity Prozeß”, D, in: Handbuch der Psychotherapie, Hrsg. Raymond v. Corsini, Psychologie-Verlagsunion, München

Grossmann, Klaus E; Grossmann, Karin (2003). Bindung und menschliche Entwicklung.
Klett-Cotta.

Lechler, W (2005)., Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung. Kreuz.

Grawe, K. (2004) Neuropsychotherapie . Hogrefe-Verlag.

Stauss,K.(2006). Bonding Psychotherapie – Grundlagen und
Methoden. Kösel-Verlag,

Greenberg, L.S.; Rice, L.N.; Elliot, R. (2003). Emotionale Veränderung fördern: Grundlagen einer prozeß- und elebnisorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.

Bonding Psychotherapie
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