Jakobs Engelkampf - ein Beispiel der Neuwerdung

von Godehard Stadtmüller

Alt und neu, modern und jung könnten Definitionssache sein. Mangels Definition bildet sich häufig ein Wortfeld und damit ein Empfindensfeld: Ein Stil, ein Konstrukt, eine Form wird als alt oder als modern empfunden. Ideen sind nach Plato alterslos und ewig, erscheinen aber je nach Schule oder Zeitgeist – wie andere Konzepte der Philosophie – immer wieder höchst aktuell, nachdem sie veraltet geklungen hatten. Sprache wird alt und veraltet. Lehrgebäude der Physik scheinen veralten zu können, sowohl indem sie als falsch erfunden werden (z.B. die Theorie vom Ätherraum in den Lehrbüchern bis ca. 1900), oder indem sie in umfassenderen Theorien aufgehen. Selbst Aristoteles’ zweiwertige Logik, wirkmächtigstes wissenschaftliches System aller Zeiten mit Gültigkeit (im Abendland) bis Frege, ist durch mehrwertige Logiken abgelöst.

Die meisten Menschen scheint besonders der Kreis ihres eigenen Lebens anzugehen. Und doch: ein prähistorischer Fund kann uns berühren, mehr z.B. als die Geste des Nachbarn, weil er etwas über unser Menschsein erzählt, eine kosmogonische Theorie, obwohl sie vom Ältesten überhaupt handelt, kann für uns neu sein, weil sie unser Verhältnis in der Welt neu sehen lässt. Besonders aber bewegen die Menschen Wandlungen, in denen das Alte schwindet und das Neue keimt, das Alte zerbricht und das Neue sich eruptiv durchsetzt. Da I Ging (“Buch der Wandlungen”) stellt menschliche und kosmische Grundsituationen und deren mannigfaltige Übergänge in einem systematischen Kompendium dar. Es dürfte in den letzten 2500 Jahren eines der meistgelesensten Bücher in China gewesen sein (1).
Solche Wandlungsschritte treffen Menschenleben in Geburt, Pubertät, Verliebtheit, Bindung, Trennung. Auch der Tod ist Abschied vom Alten und Beginn des Neuen, unabhängig, ob er als Eingang ins Nichts oder in ein – wie immer vorgestelltes – Weiterleben gesehen wird. Wachstumsschritte werden nicht nur durch vorgegebene Geschicke erzwungen, sondern können auch durch eine bewusste Begegnung mit dem Schicksal möglich – oder verpasst – werden. Nicht selten gelingt ein höheres Wachstum erst, wenn jemand sich mit einem Teil seines Schicksals verbindet, welcher äußerlich oder innerlich zuerst als feindlich erscheint.

Ein Beispiel für einen solchen Individuationsschritt ist Jakobs Kampf mit dem Engel (Gene-sis, Kap. 32, 23-32) (oder wie die Stelle in der Einheitsübersetzung der Bibel überschrieben wird: Jakobs Kampf mit Gott). Sie trägt alle Zeichen einer Wandlung zu höherer Ganzheit: den Kampf; den unbekannten Gegner; die körperliche Veränderung; den Schmerz; die Änderung von Abwehr zu Hingabe; den Segen des Gegners; den neuen Namen der Person; die Erkenntnis; die Befestigung der Erinnerung durch Benennung der Situation und des Ortes; die Änderung des Lebens. Die Stelle erhellt im Kontext von Jakobs Lebensgeschichte (Gen, Kap. 25-36): Jakob, der dritte Erzvater des Alten Bundes, Sohn Isaaks nützt eine Schwäche seines Bruders aus und erkauft sich dessen Erstgeburtsrecht. Mit Hilfe seiner Mutter erschleicht er sich den dem Erstgeborenen zugesagten väterlichen Segen. Jakob zeigt eine daseinskluge, listige Intelligenz, aber er tut Unrecht. Jakobs innere Umkehr zeigt sich in seinen Handlungen. Gleichzeitig er-scheint sie im Kontakt zu Gott einmal, indem Jakob “Engel Gottes” begegnen, weshalb er den Ort “Heerlager Gottes” nennt (32,3); dann als Jakob in Angst vor seinem Bruder, der mit 400 Mann zu ihm unterwegs ist, demütig betet, dass er “all der Hulderweisung und Treue” Gottes nicht wert sei (32, 10-13).

Dann kommt die Stelle, um die es hier geht: der Engelkampf, in dem Jakob einen anderen Namen bekommt, der zum Synonym für das ganze Volk Israel wird. Danach scheint er verwandelt, jedenfalls ist von keinem Unrecht mehr die Rede. Jakob bleibt souverän und duldet. Was ist passiert in der Nacht des Engelkampfes? Bzw. psychologisch gewendet: was bedeutet der Engelkampf – verstanden als menschliche Grundsituation? Die äußere Situation ist die kritischste in Jakobs Leben, denn es steht auf dem Spiel, ob sein Bruder ihn umbringt oder ob er sich – und das ist eine möglicherweise tiefere Schicht als nur umgebracht zu werden oder zu überleben – oder ob er sich mit ihm aussöhnen kann.

Der Engelkampf

In der selben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine 11 Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok-Flusses. Er nahm sei und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als nur noch er al-lein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihm aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Der Mann sagte: Lass mich los, denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse Dich nicht los, wenn Du mich nicht segnest. Jener fragte: Wie heißt Du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man Dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast Du gestritten und hast gewonnen. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch Deinen Namen! Jener ent-gegnete: Was fragst Du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.

Jakob bleibt offenbar bewusst allein vor dem kritischen Tag, vielleicht um in sich zu gehen, die Situation zu überdenken, seine Kräfte zu prüfen, vielleicht, das liegt bei seiner Geschichte nahe, um zu beten. Ohne Vorankündigung ist der Gegner da. Was ist der Sinn dieses Ringkampfes, was der Grund? Jakob kennt den Angreifer nicht. Ein Gegner, der versucht, jemanden niederzuringen, erscheint als Feind. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte… Jakob imponiert als gleichstarker Gegner. Der Fremde, der Feind, kann Jakob weder überwältigen noch zur Aufgabe bewegen. – Wer die Seite des unschuldig Überfallenen einnimmt, wird froh sein, dass Jakob standhält, dass er seine leibliche Unversehrtheit, seinen Anspruch auf Selbstbehauptung nicht aufgibt. Das ist die Alltagsansicht der Dinge, die leidenschaftliche und berechtigte Sicht auf die spiegelnde Oberfläche von Recht und Unrecht. Aber haben wir, wenn wir es so sehen, wie Jakob es bis zu diesem Augenblick sieht, den Sinn der Geschichte erkannt?

Im Weiteren ändert sich die Szene ein erstes Mal mitten im Satz: Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihm aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. – Der Gegner zeigt mit einem Mal eine überlegene Kraft: er schlägt hart zu und das Hüftgelenk renkt sich aus. Warum zeigt ein Gegner so spät seine Kraft? – Mit dem nächsten Satz verkehrt sich die Dynamik ins Gegenteil: Der Mann sagte: Lass mich los, denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Der jetzt überlegene Gegner, möchte nun losgelassen werden. Jakob müsste froh sein, dass der Gegner endlich den Kampf beenden will, aber er seinerseits will ihn nicht loslassen. Was ist der Sinn davon, dass Jakob diesen Feind nicht loslassen will? Der Sinn kann nur sein, und das wird im nächsten Satz deutlich, dass Jakob im lebensbedrohenden Feind plötzlich jemand anderen erkennt. Seine Wahrnehmung ändert sich, er erkennt eine Wahrheit, die ihm vorher verborgen war. Jakob erkennt, dass es sich um eine Person (sei sie eine göttliche, engelhafte, himmlische Person) handelt, die fähig ist, sein Le-ben entscheidend positiv zu beeinflussen, und zwar, indem sie ihn segnet. Der vormalige Feind ist jemand, der Jakob beschirmen und sein Leben im Inneren und Äußeren verwandeln kann. Und deshalb heißt es: Ich lasse Dich nicht los, wenn Du mich nicht segnest.

Wenn die Stelle nicht altorientalische Sage, biblische Mythe oder ähnlich für uns nur literaturhistorisch oder religionsgeschichtlich wichtig ist, wenn sie für uns relevant sein kann, dann stellt sie eine menschliche Grundsituation dar. Die Frage kann lauten: Sind diejenigen Personen, Schicksalskonstellationen oder Bedingungen, in denen wir zu leben haben oder jene Teile in uns selbst, die uns als Feinde, als etwas, das wir loswerden wollen, was uns belastet, einengt, stört, feindselig erscheint, – sind diese Personen oder Teile von uns oder Umstände nicht manchmal ein Hinweis, weiter, größer und in diesem Fall sei der Komparativ erlaubt: ganzer zu werden? So lange wir sie als Gegner noch ansehen, ringen wir immer; wir verbrauchen unsere Kraft mit diesem Ringen. Und manchmal könnte die Wende sein, einzusehen, dass der Mensch, der mir feindselig erscheint, den ich eigentlich aus meinem Leben verbannen will, oder die Eigenschaft in mir, die mir feindselig erscheint, die ich aus meinem Leben verbannen will, oder das Schicksal, was ich am liebsten nicht hätte, – dass dies ein Angebot ist zu wach-sen. Solange wir noch die Kraft haben mitzuringen die ganze Nacht, bleiben wir dem Feindbild verhaftet. In dem Moment des Umschwungs sieht Jakob: das, was ich bekämpft habe, ist eigentlich eine Fügung. Und er ändert sich und presst den bisherigen Gegner an sich und sagt zu der göttlichen Person oder zu dem Engel: Ich lasse Dich nicht los, wenn Du mich nicht segnest. Sprachlich markiert dieser Satz den Umschlagpunkt nicht nur der Szene und von Ja-kobs Leben, sondern auch einen der Wendepunkte in der jüdischen Heilsgeschichte. Deshalb meditierte Johann Sebastian Bach über diesen Satz in einer Kantate (2). Motorisch geschieht der Umschwung früher, in dem Moment nämlich, wo Jakob nach dem Schlag aus dem Kampf in die Umarmung übergeht. Deshalb ist dieser Moment von Rembrandt dargestellt (Ölbild in Staatliche Museen preußischer Kulturbesitz, Berlin).

Ein Beispiel: Jemand, der sich in einer bestimmten beruflichen oder familiären Situation eingebunden sieht, gegen deren Einengung er Ströme von Gegenwelten in Tagträumen entwirft. Durch seinen Hader sind die Kräfte blockiert, er fühlt sich unfrei und klein. Im Moment, wo er die großartige Möglichkeit, die in der Bindung und der Tätigkeit auch steckt, sehen kann, kann er auch einen Segen bekommen, das heißt: eine Erlaubnis < du darfst weiter gehen und du darfst alles das alles haben und du darfst ein sinnvolles weiteres Leben führen. > Im Fall Jakobs: ein Leben ohne List, ohne Verschlagenheit und ohne sich einen Segen zu erschlei-chen. In der kritischen Situation bekommt er den Segen, weil er ihn unbedingt haben will und zwar ehrlich von Angesicht zu Angesicht. Und darum heißt es: Jener fragte: Wie heißt Du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man Dich nennen, son-dern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast Du gestritten und hast gewon-nen. Darin hebt der Fremde nicht nur auf den neuen Namen, die neue Identität ab, sondern darauf, dass der Kampf sinnvoll war. Psychologisch gewendet: es geht nicht mit einem einfachen Trick, sondern manchmal muss ein Mensch alles einsetzen, bevor er kapitulieren kann (denn machbar ist der Umschwung nicht) und dann in höhere Bereiche hineinwachsen kann.

Nun fragte Jakob: Nenne mir doch Deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst Du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Und das ist die Antwort. Die Antwort des himmlischen Wesens oder die Gnade oder die Begegnung mit der Weisheit im Innern ist nicht, dass die Wahrheit einen Namen erhält, sondern dass ein Segen erteilt wird. Das heißt, dass das, was da ist, in seinen guten Zügen bejaht wird für die Gegenwart und für die Zukunft und für die Vergangenheit.
Es folgt eine teilweise Erklärung. Jakob gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.

Ich gebe das zu überlegen für die, die verbittert sind oder sich in sattsamer Wohlanständigkeit gutgelaunt geben, aber innerlich mit ihrem Leben hadern. Es wäre eine Möglichkeit den Grund der Verbitterung wirklich anzusehen und zu fragen, welche Chance auch darin ist. Das ist anfangs schwer und immer schmerzhaft.
Zum Schluss – nach einer musikalischen und einer bildnerischen Assoziation – ein literarisches Belegstück für die Deutung:

So wie Jakob mit dem Engel rang
Ringt der Weinstock mit dem Sonnen-Riesen,
diesen großen Sommertag und diesen
Tag im Herbst, bis an den Untergang.

Der gelockte, schöne Weinstock ringt.
Aber abends, langsam losgelassen,
fühlt er, wie aus dem Herüberfassen
jener Arme ihn die Kraft durchdringt,

wider die er, wie ein Knabe, drängte;
ganz gemischt mit seinem Widerstand,
wird sie nun in ihm das Unumschränkte…
Und der Sieg bleibt rein und unerkannt. (4 )

(1) I Ging. Übersetzt von R. Wilhelm Diederichs: Düsseldorf, 1974
(2) Bach, Joh. Seb.: Kantate “Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn”, BWV 157
(3) Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung,. Herder: Freiburg, Basel, Wien. 4. Aufl., 1990
(4) Rilke, R. R.: Sieben Entwürfe aus dem Wallis oder Das kleine Weinjahr. Sämtliche Werke, Band 3, Insel: Frankfurt/Main, 1976, S. 146

Dr.med. Godehard Stadtmüller, Chefarzt, Adula Klinik (Obersstdorf), info@adula-klinik.de, www.adula-klinik.de.

Bonding Psychotherapie
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