Bonding-Therapie – Schattenaspekte –

Versuch einer geschichtlichen Erklärung
Jeff und Julia Gordon

In dieser Schrift wollen wir den geschichtlichen und kulturellen Hintergrund, in dem die Bonding-Psychotherapie entstanden ist beleuchten und reflektieren, da wir den Eindruck haben, dass einige Begleiterscheinungen der Anfangszeit lang ihre Schatten geworfen haben.

Anlass unserer Überlegungen war ein Gespräch mit einem von uns hochgeschätzten Schweizer Freund und Kollegen, einem Psychologen und ausgebildeten Bonding-Psychotherapeuten, Leiter eines Therapiehauses. Auf unsere Frage, warum er die Bonding-Psychotherapie, obwohl von ihm geschätzt, nicht mehr anwendet antwortete er, dass mit ein Grund sei, dass aus der Ursprungszeit des damaligen „New Identity Process“ (2001 umbenannt in Bonding-Psychtherapie) der B.P. immer noch das Bild des Ausagierens anhafte, insbesondere von Gefühlen und Sexualität. Hier geht es also sowohl um das Konzept der Abstinenz und um Fragen des Agierens und Ausagierens in der Gruppenpsychotherapie, als auch um den Umgang mit der Gegenübertragung des Therapeuten, sowie um ethische Fragen insbesonders bei Körpertherapien.

Tatsächlich wurde in der Anfangszeit des N.I.P. (B.P.) der Ausdruck von Gefühlen in einer bunten Mischung von primären, sekundären (sog. Ersatzgefühlen) und instrumentalisierten Emotionen stark ermutigt, was u.a. dazu führte, dass die durchsetzungsfähigeren Teilnehmer/Innen Gefühle „missbrauchten“ um zu manipulieren, bzw. andere zu dominieren. Zeitweise galt die Devise: “Je mehr Gefühle einer hat und ausdrückt desto besser“, ohne zu differenzieren. Noch gravierender war die damalige Einstellung zu Sexualität. Hier spielte Casriels persönlicher Umgang mit Sexualität eine grosse Rolle, indem er die therapeutischen Grenzen zu Workshop-Teilnehmerinnen häufig nicht wahrte. Beides, sein Vorbild und der Mangel an klaren Richtlinien im Umgang mit Sexualität und Beziehungen, ermutigte einige Teilnehmer/Innen seiner Workshops zu einem sehr freizügigen Umgang mit Sexualität. Die Notwendigkeit Beziehungen zu schützen und Beziehungsverantwortung zu übernehmen fiel dabei unter den Tisch.

Diese Fehlentwicklungen wurden von den später praktizierenden B.P.-Therapeut/Innen erkannt und korrigiert. Dennoch stellt sich die Frage wie es möglich ist, dass eine Therapieform, die in ihrem Kernansatz auf humanistischen Werten basiert, neben allem Wertvollen und Heilsamen, in ihrer Anfangsphase einen solchen Schattenanteil entwickeln konnte. Dies ist nur verständlich, wenn man die kulturellen Bedingungen der 60er und 70er Jahre mit dem damals herrschenden Zeitgeist in Betracht zieht.

Die Stimmung der 60er und 70er Jahre war eine Reaktion auf die Erfahrung der 50er Jahre, der Zeit des Wiederaufbaus in Deutschland nach dem „verlorenen“ Krieg. Wie jeder Krieg, hatte auch dieser auf der mentalen Ebene eine längere Vorbereitungszeit. „Über viele Jahrzehnte hinweg waren Kampf und Aggression ein in westlichen Ländern idealisiertes, zeitweise geradezu religiös verehrtes Prinzip „Leben heißt Kämpfen“. Dieses Motto wurde nicht nur in den Jahren des Naziregimes, sondern schon in den Jahrzehnten davor – aber auch danach wieder – hochgehalten, und es kommt auch neuerdings wieder in Mode“. . . . „ Der Hitler-Faschismus, mit seiner menschenverachtenden Denkweise hatte in Deutschland ein moralisches Desaster hinterlassen“. (Jochen Bauer)

Nach Kriegsende stand vor allem der Wunsch und die Notwendigkeit nach materieller Sicherheit und einem geordneten Leben im Vordergrund. „ Die Kinder sollten es besser haben“. – In Amerika erlebten die 50er Jahre die Eisenhower-Ära, die ebenfalls geprägt war von Materialismus und Erfolgsstreben, mit hoher Betonung konventioneller Werte.

Als Reaktion auf die in beiden Gesellschaften vorherrschende, stark vom „Darwinismus“ (J.Bauer) geprägte Stimmung entstanden die Frauen-, Friedens-, Bürgerrechts- und Studenten- Bewegungen der 6oer und 70er Jahre. Ihre Anhänger erhofften sich eine Korrektur und Entwicklung in Richtung Toleranz, Pluralismus und Lebensfreude.

Einer Haltung, die vor allem auf Konkurrenz und Leistung basierte, wurde das Individuum mit all seinem Entwicklungspotential, seiner Kreativität und seiner Vitalität entgegengestellt. Aus der Sehnsucht nach einer „besseren Welt“, die Unterschiedlichkeit und Vielfalt, ohne Kampf und Streit zulassen würde, entstanden die Kriegsprotest-Bewegung, die Frauen, – Hippie, – und Ökobewegung. Neue Formen des Zusammenlebens wurden ausprobiert, die Pädagogik sollte reformiert werden. Die humanistische Psychologie entwickelte sich und unter ihrem Einfluss entstanden viele neue Therapieformen und –schulen. Auch Casriel’s Arbeit wurde davon stark beeinflusst. Die humanistische Psychologie verzichtete weitgehend auf pathologisierende Begriffe, stellte den Menschen mit seinem Entwicklungspotential in den Mittelpunkt und betonte die heilende Kraft der Gemeinschaft, wie sie später z.B. von Walther Lechler vorbildhaft in seinem „Bad Herrenalber Modell“ praktiziert und gelebt wurde.

Mit einigen Erscheinungen der damals entstandenen Subkulturen und den damit verbundenen Ideologien setzt sich Helm Stierlin schon in den 80-iger Jahren eindrucksvoll auseinander:

„Einige der auffälligsten Aspekte sind die Antithesen zu dem „liebevollen Beisammensein“, mit ihrer Vision von einem Leben miteinander, frei von Aggression und Machtkämpfen. . . . . Von Ambrosino unternommene Studien widersprachen der Vorstellung von dem liebevollen und befreiten Umgang miteinander und zeichneten stattdessen das Bild eines grimmigen Kampfes ums Überleben.“ (Helm Stierlin „Eltern und Kinder“1980, S. 181)

Stierlin nimmt Stellung zu einigen ideologischen Behauptungen der damaligen Zeit:

„Eine dieser Behauptungen betrifft die Geringschätzung von längerdauernden Beziehungen und Verpflichtungen jeglicher Art. Der verstorbene F. Perls war ein Vertreter dieser ideologischen Position. In einem seiner bekanntesten Zitate . . . . . . . lehnt er es ab, dass man den Erwartungen des anderen entsprechend sich verhalten soll. Stattdessen preist er die „wunderbaren“ Zufallsbekanntschaften, die frei von Fesseln sind. Auf diese Weise spielt er Loyalitätsbedürfnisse herunter und zerstreut alle Schuldgefühle über das Versagen gegenüber dem anderen und darüber, dass man ihn verlassen hat. „

Eine weitere Behauptung, die in Beziehung zu der vorherigen steht, betrifft das Recht eines jeden, „das zu tun, was ihm Spaß macht“.

„ Wie der Individualismus von früher, legt dieses „tun, was einem Spaß macht“ dem Recht des Individuums auf Selbstverwirklichung übergrosse Bedeutung bei, auf Kosten der Bereitschaft, mit anderen solidarisch zu handeln und Verzichte für sie zu leisten.“ ( H. Stierlin, „Eltern und Kinder“, 1980, S. 181, 182)

Um verstehen zu können, wie es zu solchen Entwicklungen kommt, bietet Ken Wilbers Konzept der individuellen und gesellschaftlichen Evolution ein hilfreiches Erklärungsmodell.

Nach Wilber durchlaufen Individuen und Gesellschaften hierarchisch geordnete Entwicklungsschritte, um zu einer höheren Bewusstseinsstufe und Reife zu gelangen. Diese Entwicklungsschritte teilt er ein in „prä-konventionelle“, „konventionelle“ und „post-konventionelle“ Phasen.

In der prä-konventionellen Phase sind die ethischen und moralischen Werte der Bezugsgruppe noch nicht internalisiert. Sie ist gekennzeichnet durch Egozentrik und Narzißmus, mit der vorherrschenden Einstellung „Was ist gut für mich“.

Während der konventionellen Phase lernt das Individuum die Regeln seiner Bezugsgruppe. Wilber nennt diese Phase ethno-zentrisch. Hier zählt vor allem die eigene Gruppe, der Clan oder die Nation. Es besteht die Neigung Nicht-Zugehörige nicht zu beachten oder auszuschliessen.

Die post-konventionelle Phase bedeutet eine nochmalige Identitätserweiterung, indem nun alle Menschen, unabhängig von Rasse, Farbe, Geschlecht und Glauben in das ethische und moralische Bewusstsein eingeschlossen und gleichermassen respektiert werden. Wilber nennt diese Haltung Welt-zentriert.

Hier ist wichtig zu beachten, dass beide, sowohl die prä-, als auch die post-konventionelle Stufe Verhaltensweisen hervorbringen können, die nicht-konventionell sind. Aus diesem Grund kann eine Handlung, die ihren Ursprung aus der prä-konventionellen Sichtweise bezieht, leicht mit einer Handlung aus einer post-konventionellen Sichtweise verwechselt werden. Wilber nimmt als Beispiel die Studentenproteste der 60er Jahre gegen den Vietnam-Krieg.

„Die Studenten behaupteten alle, dass sie gegen den Krieg protestiert hätten, weil er unmoralisch sei. In Untersuchungen der moralischen Entwicklung der Studenten wurde herausgefunden, dass manche von ihnen tatsächlich ein hoch entwickeltes Unrechtsbewusstsein hatten. Manche Studien zeigten, dass viele der Protestierer „Nein“ zu einem Krieg gesagt hatten, den sie als falsch empfunden haben, aus einem post-konventionellen moralischen Bewusstsein heraus, d.h. abgeleitet aus einer Welt-zentrierten Denkweise. – Aber bei vielen Protestierern wurde eine prä-konventionelle Haltung festgestellt. Sie sagten „Nein“ aus einer egozentrischen und narzißtischen Haltung. Anders ausgedrückt war ihre Botschaft „Leck mich am Arsch, niemand sagt mir, was ich zu tun habe“. (Wilber, Integral spirituality, S. 104)

Unter demselben Dach gab es prä- und post-konventionelle Protestierende, die beide „Nein“ gesagt haben. Die unterschiedliche Motivation war auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

„Die Protestbewegungen – welche die konventionellen Haltungen mächtig angriffen – waren sehr anziehend, sowohl für sehr niedrig, als auch für sehr hoch motivierte Reaktionen und alle benutzten dieselbe idealistische Rhetorik, sodass unter einem post-konventionellen Dach Prä-konventionelles florierte. Diese beiden Haltungen zu verwechseln und als ebenbürtig zu behandeln – was gang und gäbe war- ist ein klassischer prä-post Irrtum“. (Wilber S.104)

Um diese Gedankengänge fortzuführen stellen wir einige Einstellungen und Verhaltensweisen der 70er Jahre einander gegenüber.

Der Wunsch nach mehr Lebendigkeit und Lebensfreude, einschliesslich der Freude am eigenen Körper und der Sexualität, sowie die Sehnsucht nach einer liebevollen Gemeinschaft, in der sich der Einzelne angenommen und bejaht fühlt, ist grundsätzlich positiv und Voraussetzung als Motivation zur Entwicklung von bisher noch schlummerndem menschlichem Potential. Diese an sich post-konventionelle Motivation war getrübt von prä-konventioneller Pathologie.

So ist zu verstehen, wie der Wunsch nach Sinnlichkeit missbraucht werden konnte für narzisstisch geprägte Promiskuität. Das Streben nach einer freien und gleichberechtigten Gestaltung von Partnerschaften führte zu einer Leugnung von Loyalitätsbindungen und Beziehungsverantwortung. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit konnte in Gruppenzwang ausarten, der dazu führte, dass eigene elementare Bedürfnisse verleugnet und den Bedürfnissen der Gruppe untergeordnet wurden. Unter dem Deckmantel des Post-konventionellen traten viele Facetten prä-konventionellen Verhaltens in Erscheinung.

Zusammenfassende Bemerkungen:

Daniel Casriel hatte es als einer der Ersten gewagt, zwei Tabus unserer Gesellschaft, das Zulassen und Ausdrücken von Gefühlen und körperliche Nähe zu anderen Menschen in Frage zu stellen. Die Erscheinungen der Anfangszeit sind im Lichte des Zeitgeistes der 60er und 70er Jahre zu sehen und sie stellen ein typisches Beispiel dar für Entgleisungen, wie sie damals bei einigen neu entwickelten Therapieformen und Lebensmodellen in Erscheinung traten. Die damaligen Fehlentwicklungen wurden von den praktizierenden Bonding-Therapeut/Innen erkannt und korrigiert. Seit nun schon mehr als 30 Jahren wird die Bonding- Psychotherapie im Rahmen einer sehr viel verantwortungsvolleren ethischen Grundhaltung und auf der Basis einer wesentlich differenzierteren affekttheoretischen Konzeption erfolgreich praktiziert.

Mit diesen Überlegungen hoffen wir, einen Beitrag zur Aufhellung eines Schattenbereichs der Anfangszeit der Bonding-Psychotherapie gebracht zu haben.”

Literatur:
Helm Stierlin: „Eltern und Kinder“
Jochen Bauer: „Prinzip Menschlichkeit“
Ken Wilber: „Integral Spirituality“

Wir danken unseren Freunden und Kollegen Jürg Dennler und Gert Lyon für ihre wertvollen Rückmeldungen.

Jeff und Julia Gordon, 2007, überarbeitet 2019

Bonding Psychotherapie
seit 1978

Mitglied in der
Deutschen Gesellschaft
für Bonding Therapie e.V.