Bonding(-Psychotherapie)
Wie wir gute Bindung lernen (können)

Regina Stawowy

Einblick in die Praxis

Zunächst die Schilderung aus einem Workshop in Bonding-Psychotherapie, wie sie im
„Zentrum im Kraichgau“ seit mehr als vierzig Jahren praktiziert und gelehrt wird:

Ein Raum, erfüllt von Schreien und Schluchzen – Geräuschen, die einen glauben ma- chen könnten, man befinde sich mitten auf einer Säuglingsstation. Dazwischen wütende Schreie, die nach sich selbst behauptenden Kleinkindern klingen. Der Boden ist ausge- legt mit Matten, auf denen jeweils zwei Teilnehmer/-innen aufeinanderliegen. Der unte- re hält sich wie ein kleines Kind mit beiden Armen an dem auf ihm liegenden Men- schen fest, der sich seinerseits mit Knien und Armen auf dem Boden abstützt. Eine ein- zelne Teilnehmerin lehnt mit dem Kopf an der Brust eines anderen, der angelehnt an die Wand sitzend, ihr beruhigend ins Ohr flüstert, zwischendurch kleine Melodien summt. Doch nicht nur Weinen und unartikulierte Schreie, sondern auch deutliche, in ihrer Lautstärke sich steigernde, wiederholt ausgesprochene, bald geschriene Sätze sind zu hören. „Ich bin liebenswert, ob du das siehst oder nicht!“ – „Mama, ich hätte dich anders gebraucht!“ – „Um dir nah sein zu können, bleib ich mir treu!“
Gerade findet die Bonding-Übung statt. Selbst wenn man schon einige Workshops erlebt hat, ist die Wucht der Gefühle überwältigend und berührend. Die Therapeutin bewegt sich zwischen den Matten und den Paaren, die miteinander arbeiten. Sie achtet besonders darauf, dass der Kontakt zur Partnerin oder zum Partner gehalten und gespürt wird, damit niemand in belastende „alte Filme“ abdriftet. Immer wieder nimmt sie neben einer Matte Platz, fragt nach, womit diejenige, die aktuell in ihren inneren Prozess geht, seelisch in Kontakt ist. Gemeinsam wird ein passender „Einstellungssatz“ entwickelt, den diejenige dann, immer lauter werdend, ausdrückt. Während einer „arbeitet“, ist der andere stiller Begleiter. Nach der Hälfte der Zeit findet ein Wechsel statt.
Die Atmosphäre im Raum ändert sich wie in Wellen: Mal kehrt mehr Ruhe ein, mal nehmen wütende Stimmen Oberhand. Im Verlauf eines mehrtägigen Workshops wird das Geschehen während der Bonding-Übung meist immer ruhiger: Sich wechselseitig nährende Menschen mit entspannten, teils selig wirkenden Gesichtszügen, sich in den Armen liegend, bestimmten immer mehr das Bild.

Körperkontakt für die seelische Gesundheit

Eine fremde Welt? Fremd sicherlich, aber vielleicht doch weniger fern und befremdlich, als es uns zunächst erscheint. In den wissenschaftlichen Untersuchungen des Leipziger Haptikforschers Martin Grunwald zeigen sich die vielfältigen positiven Auswirkungen von Berührungen und Umarmungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. In Großstädten breiten sich „Kuschelgruppen“ aus, in denen sich fremde Menschen treffen, um miteinander wohltuenden Körperkontakt zu erleben. Eine große Krankenversicherung wirbt mit dem Slogan „Geht Omas drücken“ und erklärt: „Körpernähe macht nicht nur glücklich, sondern auch gesund.“ Auch in Bonding-Workshops kann man eine, bezogen auf die anfänglichen Ängste der Teilnehmer/-innen, erstaunliche Beobachtung machen: Überraschend schnell stellt sich so etwas wie eine grundsätzlich entspannte Selbstverständlichkeit dabei ein, mit gerade noch fremden Menschen in körperliche Nähe zu gehen und dabei zutiefst menschliche Gefühle zu teilen.
Die von John Bowlby begründete Bindungstheorie beschreibt, wie sich aus den konkreten sinnlichen Erfahrungen des Säuglings beim Halten, Wiegen, Füttern, beim Blickkontakt und dem stimmlichen und emotionalen Austausch mit einer wichtigen Bezugsperson allmählich eine Bindung formt. Abhängig von innerhalb dieser ersten, für uns überlebenswichtigen Beziehung gemachten Erfahrungen entwickeln wir einen Bin- dungsstil. Dieser Bindungsstil bestimmt die Qualität späterer Beziehungen mit, weil er für uns eine Art unbewusstes inneres Arbeitsmodell darstellt. Der Begründer der Bonding-Psychotherapie, Daniel Casriel, ein amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker, der seinen Ansatz in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte, bezeichnet die oben beschriebenen Erfahrungen des Säuglings in einem weitreichenderen Sinn als Bonding. Er definierte Bonding als ein Erleben emotionaler Offenheit zusammen mit körperlicher Nähe und ging davon aus, dass alle Menschen, nicht nur kleine Kinder, ein Grundbedürfnis nach Bonding haben. Die meisten der seelischen Beeinträchtigungen in den berührungsarmen westlichen Industrienationen sah er als Ausdruck eines ungestillten Hungers nach Bonding.

Arbeit an dysfunktionalen verinnerlichten Einstellungen

Welche psychologischen Konzepte und therapeutische Erfahrungen stehen hinter der oben beschriebenen Bonding-Übung? Wenn wir einem anderen Menschen körperlich nah und gleichzeitig in Kontakt mit unserem inneren Erleben sind, tauchen alte Verletzungen auf, die in der (körperlichen) Nähe unserer frühen Beziehungen entstanden sind. Im Alltag schützen wir uns vor deren Wahrnehmung, indem wir damit verbundene Gefühle und Erinnerungen aus unserem Bewusstsein drängen oder Nähe überhaupt meiden. Im sicheren therapeutischen Rahmen zeigen sich während der Bonding-Übung häufig zunächst diffuse Gefühle von Angst und Traurigkeit, schmerzhafte Körperem- pfindungen oder „störende“ Gedanken. Die Unfähigkeit, sich auf sich selbst zu kon- zentrieren und die Gefühlsäußerungen der anderen im Raum auszublenden, kann sich dabei beispielsweise als zentrales, in der Kindheit entstandenes Beziehungsmuster ent- puppen. Die begleitende Therapeutin hilft, ausgehend vom aktuellen Erleben, verinnerlichte unbewusste Überzeugungen, die in der Bonding-Psychotherapie Einstellungen genannt werden, zu identifizieren. Bei jemandem, der in seiner Kindheit von seinen Bezugspersonen wenig beachtet wurde, könnte eine verinnerlichte Einstellung lauten:
„Ich bin nicht wichtig.“ In der Therapie wird als „Gegenmittel“ zu dieser dysfunktionalen Einstellung nach einer positiven gesucht. Dies geschieht entweder begleitend „an der Matte“ oder ausführlicher in einer parallel stattfindenden, ebenfalls therapeutisch geleiteten Einstellungsgruppe. In unserem Beispiel könnte eine neue innere Haltung mit dem Satz „Ich bin genauso wichtig wie du!“ zum Ausdruck gebracht werden. Geschieht dies während der Bonding-Übung, vielleicht zunächst zaghaft, dann zunehmend kraftvoller, kommen die mit den frühen Erfahrungen verbundenen Gefühle von Schmerz, Wut oder Angst an die Oberfläche. In der sicheren Nähe zur Bonding-Partnerin können diese gespürt und ausgedrückt werden. So können korrigierende Beziehungserfahrun- gen gemacht werden.
Zur Praxis der Bonding-Psychotherapie gehören neben der Bonding-Übung und der oben erwähnten Einstellungsgruppe auch theoretische Einheiten, die in das dahinterstehende Konzept einführen und den Teilnehmenden Werkzeuge an die Hand geben, aktuelles Beziehungserleben oder das Auftauchen seelischer Beschwerden im Alltag besser zu verstehen und einen günstigeren Umgang damit zu finden. Die in der Therapie gemachten Erfahrungen führen nicht automatisch zu veränderten Alltagsbeziehungen. Sie müssen übersetzt und integriert werden, um nährende Beziehungen auf- bauen und bestehende Bindungen vertiefen zu können – das erfordert immer wieder die Überwindung alter Ängste und kann am ehesten als lebenslanger Wachstumsprozess verstanden werden.

Regina Stawowy, Diplom-Psychologin, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin, Systemische Therapeutin, Körperpsychotherapeutin, in Ausbildung zur Bonding-Psychotherapeutin, niedergelassen in psychotherapeutischer Privatpraxis in Leipzig. Sie sagt: „Erst durch die Bonding-Psychotherapie habe ich gelernt, der Kraft von Gefühlen als >Bindemittel< zwischen Menschen wirklich zu vertrauen.“
E-Mail: info@psychotherapie-stawowy.de Website: www.psychotherapie-stawowy.de

Literatur
Gordon, J.: Bonding-Psychotherapie: eine Einführung. https://www.bonding-psychotherapie.de/was-ist-bonding- therapie/einfuehrung.
Grunwald, M. (2017). Homo Hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München. Stauss, K. (2006). Bonding-Psychotherapie. Grundlagen und Methoden. München.

erschienen in:
Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer. Heft 4/2019. S.20-22. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co KG, Göttingen.

Bonding Psychotherapie
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